Seit sieben Jahren arbeitet und wohnt Herr U. an und in dem Fabrikgebäude, in dem sich sein Wohnatelier befindet. Die alte Fabrik, einst großes Ensemble und Standort der Verarbeitung großer Mengen Pflanzenfett, steht nur noch zum Teil. Von der Straße aus sieht sie heruntergekommen aus, in den erkennbaren Öffnungen alter Industriefenster sind provisorisch anmutend unpassende Fenster eingebaut. Durch eine Stahltür betritt man das Treppenhaus, das durch eine Anhäufung von gestapelten und angereihten Dingen, Büchern wie Baumaterialien, in den ersten Stock führt. Inmitten einer Szenerie von Unordnung, angefangenen und liegen gelassenen Projekten befindet sich das Atelier. Im Kontrast zur Umgebung zeigt sich hier ein heller, sanierter Raum.
Alles hier ist selbstgemacht: Die Wasserleitungen, der Boden, die akkurat sanierten alten Fenster und der Zugang zum Wasser per Wendeltreppe. Die Aneignung der gemieteten wie auch angrenzender Flächen passiert mit viel Mühe, aber auch mit viel Selbstverständlichkeit. Jeder Besuch zeigt Veränderungen, nichts scheint in Stein gemeißelt, nicht mal Wände.
Herr U. dürfte dort eigentlich nicht wohnen – die alte Fabrik liegt in einem Industriegebiet. Und auch sonst scheint alles dagegen zu sprechen, hier zu wohnen. Der weite Weg von der Innenstadt, die umliegende Industrie, die Mühen, die es kostet, die ehemalige Fabrik wohnbar zu machen, die Materialkosten, die Unsicherheiten, die eine solche Situation produziert. Aber Regeln scheinen hier nicht anwendbar zu sein, weder Verbote noch Widrigkeiten haben Herrn U. davon abgehalten, sich Stück für Stück das alte, fast verfallene Gebäude anzueignen und dadurch Wohnraum zu schaffen, wo man ihn nicht erwarten würde, der aber dadurch umso mehr Freiheit lässt, diesen nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten
“Wer etwas Verfallenes mühsam renoviert, wird von Phantasien getrieben, die stärker als jede Realität sind. Alle triftigen Gründe für das Notwendige, Praktische und Ökonomische verblassen oder werden dem Entschluß zur Investition unendlicher Mühe nachgestellt“ (Selle 1993, 25f).
> https://urban-types.de/de/cases/the-rules-do-not-apply
Urban Design Methods:
Film Grundrissanalyse
Dérive – Wahrnehmungsspaziergänge
Diagrammatik
Credits:
Anna Seum, Charlotte Niewerth, Lena Enne
Herausgeber*innen:
Dr. Anna Richter, Prof. Bernd Kniess, Lehr- und Forschungsprogramm Urban Design Marieke Behne, Christoph Heinemann, Architektur + Stadt
Urban Types. Von Häusern und Menschen
Hamburg Open Online University – HCU Hamburg
Zeitraum:
09/2020 – 03/2021
Kontextbezogene Literatur:
Selle, Gert (1993): Die eigenen vier Wände: zur verborgenen Geschichte des Wohnens. Frankfurt/Main ; New York: Campus.
Ripley, Colin (2017): „Strategies for Living in Houses“. FOOTPRINT, Dezember, Issue # 21 | Autumn / Winter 2017 | Trans-Bodies / Queering Spaces.